Frühwerk 1962-1975

Zeit des Lernens und Experimentierens

 

Im Frühwerk Breitlings dominieren graphische und druckgraphische Arbeiten neben kleinformatigen Gemälden. Dies ist vermutlich dem Umstand geschuldet, dass Breitling ihr Studium überwiegend bei Friedrich Stabenau absolvierte, der die Professur für freie Grafik an der Hochschule der bildenden Künste in Berlin innehatte und dessen Meisterschülerin sie wurde. Es entstanden zahlreiche Zeichnungen, in denen Breitling mit unterschiedlichen Materialen, Tusche, Feder, Bleistift, Aquarell auf unterschiedlichsten Zeichengründen experimentierte. Daneben erste kleine Gemälde, die einen intensiv erarbeiteten Bildaufbau dokumentieren und die Nähe zur Grafik erkennen lassen. Bereits 1965 fertigte sie Zeichnungen zum Thema Tugenden und Laster und bereitete damit eine druckgraphische Folge vor, die sie bis 1966 zu der dreizehn Radierungen umfassenden Mappe „Die Tugenden und die Laster“ ausgearbeitet hat. Inhaltlich begründete sie ihre Beschäftigung mit allegorischen Frauenfiguren damit, dass sie

 

„… auf der Suche nach einer Möglichkeit [gewesen sei], Frauen darzustellen, die nicht in eine individuelle Lebensgeschichte eingesperrt sind, weil [sie, Breitling] das Weibliche in einem ‚allgemeinen‘ geistesgeschichtlichen Zusammenhang sehen wollte …“

 

Im selben Zeitraum entstanden auch erste zeichnerische Studien zu der „Geburt der Morgenröte“, einem Gedicht des italienischen Dichters Giuseppe Ungaretti, für dessen deutsche Übersetzung sie 1966 acht Radierungen entwarf, sowie die Mappe „Das Denkmal des Gordischen Knotens“, die aus 10 Einzelradierungen bestand.

 

Breitlings eigenwillige Auslegung des Themas der „Tugenden und Laster“ führt auf die Spur zu einem bestimmenden Thema ihres Frühwerks, den Metamorphosen: die Umwandlung von Körpern in Pflanzen oder Zwitterwesen. Zudem weisen die von ihr gestalteten allegorischen Frauengestalten eine ungewöhnliche, weibliche Sichtweise auf. So zeigt Breitling die Figur der Daphne allein in einen Verwandlungsprozess begriffen, ohne den ihr nachstellenden Apoll: mal verwandelt Daphne sich in einen Baum, mal aber auch in eine sich verzweigenden Alraunwurzel. Christliche Figuren wie Eva, Maria Magdalena, Delila, Salome oder Bathseba interpretiert Breitling ebenfalls auf unkonventionelle Art.

 

Die manieristisch anmutenden Mischwesen ihres Frühwerkes legen Vergleiche mit den Gemälden Giuseppe Arcimboldos oder auch den Figuren aus dem phantastischen Garten von Bomarzo nahe, den Breitling bei ihrem ersten Italienaufenthalt 1960 mit Sicherheit besucht hat – nicht zufällig entstehen zu diesem Zeitpunkt einige Zeichnungen zum diesem Thema aus ihrer Hand. Hierin zeigt sich sehr früh ihre Bewunderung für die Malkunst und Kultur der Renaissance, die zu einer lebensbegleitenden Auseinandersetzung wird. Immer wieder bezog sie sich im Laufe ihrer malerischen Entwicklung auf Renaissancevorbilder, deren sinnliche Prachtentfaltung und maltechnisches Können sie von Anfang an faszinierte. Der schwedische Schriftsteller und langjährige Freund der Künstlerin Lars Gustafsson schreibt darüber sehr treffend:

 

„Gisela Breitlings Arbeitsweise baut auf Übersetzungen auf, auf Transformationen. Sie geht von einer Bildsprache aus, die im Wesentlichen die der Renaissance ist und versucht den roten Faden von dort her aufzuwinden, den Faden, der am Ende zu unserer eigenen Zeit hinleiten soll.“

 

In ihrer Bearbeitung weiblicher mythologischer Gestalten geht es Breitling immer auch darum, das Thema der körperlichen Selbstbestimmung der Frau zu behandeln. Mit der sehr frühen und verstörenden Darstellung der Figur der Seherin Kassandra (1968-1970), die sie als doppelzüngige und physisch leidende Frauengestalt darstellt, macht sie das Thema des „existentiellen Leidens der wissenden Frau, die nicht gehört und verstanden wird“ drastisch erlebbar. Breitlings Kassandra entstand in Auseinandersetzung mit der Studentenbewegung, denn sie „sah die Arbeit, die Phantasie, die Utopien der Frauen und erlebt, wie wenig sie verstanden wurden“

 

Insgesamt wird bereits in Breitlings Frühwerk deutlich, dass die von ihr dargestellten weiblichen Figuren – seien es nun Allegorien oder für sich stehende Charaktere – der erotischen Besetzung durch eine männlich geprägte Betrachtungsweise enthoben sind. Als Beispiel für ihre frühe Beschäftigung mit dem Thema des weiblichen Torsos dürfen die „Allegorie der Erwartung“ und auch ihre erotischen Torsi gelten, die am Anfang der 70er Jahre entstanden sind und ähnlich wie auch ihre Bilder zerrissener Puppen, als künstlerischer Kommentar Breitlings auf die damals neue, durch die sexuelle Revolution ausgelöste freizügige Darstellung weiblicher Körper verstanden werden können.